Kapitel: Weiter gegangen oder
Die Reise ins Gute

von Roman Libbertz

Sommerferien, die letzten meiner Schulzeit. Jessica, Daniel, Michael und ich, alle achtzehn, ein Umstand, der uns das Fahren von Automobilen ermöglichte. Nicht irgendeinen Wagen, einen Golf, natürlich, genau 1998. In der Nacht vor unserem Aufbruch übernachteten wir bei uns zu Hause, selbstverständlich in getrennten Zimmern. Sie, Jessica, die von einer Photographiekarriere träumte, er, Daniel, der sich dem Wirtschaftswesen, allein durch die Einstecktücher für jeden sichtbar, zu verschreiben gedachte, er, Michael, mit der Brille, mein bester Freund, der über Gott und die Welt Bescheid wusste, die Schule aus dem Ärmel schüttelte, aber meiner Meinung nach von der Außenwelt nicht ausreichend anerkannt wurde und ich, ich. Eine Nacht gemeinsam in meinem Elternhaus, dass im Grunde kein Haus war, jedoch über genügend Zimmer verfügte, um derart tituliert zu werden. Die funkelnden, erwartungsfrohen Augen, die Gemeinschaftskasse mit 2000 Mark, die Holztreppen, sowie die Bodendielen musizierten auf ihre Art als wir zu Bett gingen und die Nacht legte einen kühlen Umhang über die Stadt, das Land und unsere Träume.

Lass dir von früher erzählen. Es waren andere Bilder als heute.

6 Uhr 20. Der Himmel konnte sich noch nicht für ein Wetter entscheiden, allerorts Gähnen und ich hatte ein wenig Schlaf in den Augen, als der Motor ansprang. Los! Reifen fraßen gierig die Asphaltmeter Richtung Süden, während eine von mir aufgenommene TDK-Kassette aus dem Radio erklang. „Close to you“; „Unbreak my heart“; „Torn“; „The drugs don’t work“. 365 Kilometer, an der Raststätte der erste Espresso, obwohl keinem von uns Kaffee ernsthaft schmeckte, dazu jeder eine „Muratti“-Zigarette, ein Panini, viel Lachen, Fahrerwechsel und weiter. Die Luft wurde wärmer und nach zwei weiteren Stunden erreichten wir den Gardasee. Unzählige Geschichten über dieses Fleckchen Italiens. Lazise. Wir nahmen uns ein luxuriöses Hotel, denkste, zu teuer, viel zu teuer, also eine Pension, ein Viererzimmer. Stimmungsmäßig war dies nicht abträglich, denn alles ist neu, wir selbständig und es immer noch Sommer gewesen. So sah man uns vier breit grinsende Jugendliche mit grünen Ohren gemeinsam am See entlang spazieren, vorbei an den Eisdielen, Ringeverkäufern, Hütchenspielern, während die Welt in goldenes Sonnenlicht getaucht und ich auch dabei war. Gemeinschaftskasse 1760 Mark. In einer Pizzeria bestellten wir in gebrochenem Italienisch, obwohl das gesamte Lokal und, wie wir bald feststellen mussten, der gesamte Ort sich in fester Hand unserer Mitbürger befand. In den abendlichen Telefonaten erzählte ich meiner vier Wochen auf Austausch in Amerika weilenden Liebsten mit aufgeregter Stimme von all den vielfältigen Eindrücken.

Lass dir von früher erzählen. Im Innersten der jugendlichen Seele ist es immer leinwandweiß.

Der Morgen der Entscheidung, halt, ich erwachte, streckte unwillentlich meinen Arm aus und von der Matratze neben mir rollte sie ganz nah zu mir. Ich roch ihren Schlaf, aber mehr, ihr Feuer, ihre Leidenschaft und auch ihre Idee von einer Affäre. Kurz sog ich noch den Geruch ihrer Haare auf, bevor ich meinen Arm entfernte und ins Bad ging. Wasser ins Gesicht, raus hier, weg hier. „Ich glaube, wir sollten uns tiefer in den Süden schlagen.“ Dreimaliges Nicken. Kurs auf Mailand und zum Glück saß Michael neben mir auf dem Beifahrersitz, denn Gedanken über Treue, oder explizierter, ob ich ein Leben lang ein treuer Mensch sein wollte, beseelten meinen kindlichen Kopf. „Torn“, wie immer wurde es bei diesem Lied still, sehr still, um bei „lying naked on the floor“ vierkehlig zu brüllen. Gemeinschaftskasse 1540 Mark. In der Stadt der Mode ergatterten wir für 130 Mark zwei Doppelzimmer. Jessica wollte mit mir nächtigen. Ausgefuchstes Luder, doch ihre Rechtfertigung überzeugte uns alle. Sie kannte mich seit längerer Zeit, Daniel kaum und niemand sollte sich auf unserer Reise eingeengt fühlen. Am Abend betranken wir uns ordentlich, sie, nicht ich, denn Alkohol war mir zu dieser Zeit nur bitter, brennend und sämtlich fern. Wir tingelten durch ein Dutzend modrig riechender Diskotheken, tanzten zu unsäglicher Euro-Beat-Musik und ich gab den nüchternen Aufpasser. Die Nacht verlief ohne Komplikationen, bis auf meinen Darm. Magenkrämpfe und Winde, welchen ich Einhalt gebot.

Lass dir von früher erzählen. Die Welt der Heranwachsenden ist so bunt, dass man kaum die Pinselstriche sieht.

Am nächsten Tag selbstverständlich Kleidungsstücke begutachten, Sehenswürdigkeiten abklappern und mehr und mehr zu einer eingeschworenen Rasselbande zusammenwachsen. Wir gegen die Welt! In der Nacht fand ich keinen Schlaf, setzte mich, betrachtete ihr Gesicht im einfallenden Mondlicht und die Rolex-Reklame auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 3 Uhr früh. „Hey, wach mal auf.“ „Was ist denn?“ „Nichts, aber ich glaube ich muss dir was sagen.“ „Was denn, ich schlafe doch.“ „Ach nichts.“ „Jetzt sag schon.“ „Ich, ich, ich will treu sein, glaube ich.“ „Das ist schön.“ Sie stand auf und ging ins Bad. Ein Stein von meinem Herzen. Ich werde mein Leben lang nicht zum Hintergeher, Betrüger! Das fühlte sich gut an. Die Tür ging auf, sie kam zu meinem Stuhl, ein leichter Windstoß spielte mit ihren Haaren, ich spürte ihre rote Jogginghose an meiner Schulter, blickte auf die sich unter ihrem Top deutlich abzeichnenden Nippel, sie ließ ihre Finger durch mein Haar fahren und riss für einen Moment an hunderten von Haarwurzeln, was ein kitzelndes Gefühl in meinem Unterleib hervorrief. „Du wirst mit mir sicher nicht untreu. Und jetzt lass uns schlafen, du Spinner.“ Ich gehorchte. Zusammen in getrennten Betten, die jedoch aus Platzgründen eng zusammen standen. Sie streichelte über meine Schulter und unter der Decke wölbte sich etwas aus meiner Lende. Schlaf.

Lass dir von früher erzählen. Nicht nur junge Menschen besitzen mehrere Farben, jedoch vergessen wir das von Tag zu Tag mehr.

Der nächste Tag, ein Tag vor einem Tag, nach einem Tag. Ich atmete schwerer. Statt mit den Anderen ausgiebig zu frühstücken, gingen Michael und ich in den Dom. Eingehend besprachen wir Jessica. Nicht, dass ich dieses Sujet wählte, aber wie es sich gab, schien er sich verliebt zu haben, kam ins Schwärmen, beschrieb sie einem Engel gleich und offenbarte sein entflammtes Herz. Meine Zähne verbissen sich unter dem Druck seiner ausschweifenden Beschreibungen auf meiner Unterlippe. Vier Menschen, darunter eine Frau, das ist wie Wasser nach den Kirschen! Ich musste, konnte nicht, musste und erzählte ihm schließlich von den Annäherungen mit ihr. Er war froh, dass ich nicht weiter gegangen war und beschwor mich, meiner Freundin treu zu bleiben. Sein Reden nicht gänzlich unegoistisch, aber es war das Beste, fühlte sich zumindest so an.
40 Grad zwischen Beton, kein Meer in Sicht. Was machen wir bei solch einer Hitze in der Stadt? Einpacken, zahlen und auf das Gaspedal. „Torn“ zweimal vierkehlig. Gemeinschaftskasse 1230 Mark. Juxe mit den südländischen Beamten an den zahlreichen Mautstellen und der metallene Autolack blitzte. Wir flitzten die E62 hinunter, flogen an Piemonte vorbei und erreichten Genua im Abendrot. Michael versorgte uns mit den nötigen Details, eine Hafenstadt mit vielen Ecuadorianern, weiter schenkten wir seinen strebsamen Ausführungen keine Beachtung. Ich bog auf die E80 ab und da lag es, das feuerrote Meer, begleitet von Freudenschreien im Inneren. Zwei Fotokameras klickten und dann rumms. Was war denn das? Scheiße, ich hatte das Steuer des Autos von Daniels Mutter verzogen und die Leitplanke geschrammt. „Aussteigen, sofort“ brüllte er. Eine halbe Stunde verfluchte mich Daniel, ich mich, die anderen Daniel und mich und schließlich wir alle Daniel, der daraufhin klein beigab. Zwanzig Minuten der nächste Stopp. Tanken. Michael überschlug unsere Gemeinschaftskasse. 1020 Mark. Mist, erst jetzt bemerkten wir das „Chiuso-Schild“. Die Tankstelle hatte bereits geschlossen. Nur 5 Kilometer bis zum nächsten Dörfchen, aber Serpentinen, das schaffen wir, schafften es. Vernazza, ein malerisches Fischerdörfchen an der Rivieraküste. Ich stieg aus und erschrak. Der Tankdeckel stand offen. Mist, Mist. Ich Trottel hatte den abgeschraubten Tankverschluss auf der Zapfsäule vergessen. Michael forderte eine sofortige Rückholaktion. Ich war dagegen, aber gemeinschaftlich wurde beschlossen, dass wir umkehren, während sich Jessica und Daniel bereits um die nächtliche Unterkunft bemühen sollten.

Lass dir von früher erzählen. Damalige Fehltritte sind dunkle Flecken auf lebendigen Gemälden.

Mit dem nahezu letzten Tropfen Benzin erreichten wir, nach erfolgreicher Mission und darauf folgenden unzähligen Gebeten, die waldeingeschlossene, holprige Bergstrasse hinab, erneut Vernazza. Ein kleiner Marktplatz mit altehrwürdigen Häusern in salzabgetragenen Wandfarben, an dessen Ende sich die Wellen an Vulkansteinen brachen, drei Fischrestaurants, eine kleine gotische Kirche, ein winziger Bahnhof und eine versperrte Grotte. Jessica und Daniel teilten uns mit, dass nicht ein Zimmer zu ergattern war, sie es aber durch einen glücklichen Zufall doch möglich gemacht hätten. Ein silberner Schlüssel wurde pokalähnlich gen Himmel gereckt. Das Schloss knarrte, die Tür schwang auf und wir betrachteten das spärlich eingerichtete Zimmer. Ein Ehebett, ein Schrank und ein Waschbecken, mehr nicht. Keine Klagen, wir würden Bettenreise nach Jerusalem spielen, das heißt abwechselnd jeweils zwei auf den Nebenseiten des Bettes auf dem Boden und zwei im Bett schlafen, aber Scheiße, Jessica wollte abermals nur mit mir eine Matratze teilen. Mit „in Ordnung, aber erst in der nächsten Nacht, heute wird das Bett überlassen“ gewann ich Zeit. „D`accord.“
Entkräftet und hungrig wie nie zuvor auf unserer Reise stürmten wir in eins der rustikalen Restaurants. Der Kellner ein Spaßvogel, er steckte uns aber mit seiner lebenslustigen Einstellung rasch an. Meeresfrüchte mit Spaghetti, dann ohne Spagetthi und schließlich nochmals mit Spaghetti. Dazu kredenzte unsere Bedienung einen regionalen Rotwein und ihm gelang es sogar, mich zu dem bitteren Traubenwein hinzureißen. Der Mond strahlte über unseren Köpfen, Insekten schwirrten um die Straßenlaternen und das Meer rauschte. Wir alle atmeten. Gemeinschaftskasse 830 Mark. Zur Abendunterhaltung stand nur der Zug nach La Spezia zur Auswahl, weshalb wir einfach sitzen blieben, sitzen blieben und sitzen blieben. Ich spürte ein ungewohntes Kribbeln in meinem Kopf, und auch meine Gliedmaßen bewegten sich nur noch prozentual so, wie ich es wollte. Das war also der sagenumwobene Suff und wenn ich mich schon einmal in diesem Zustand befand „dann nehmen wir doch den Zug und verwandeln diesen Abend in eine Ode“. Keiner wollte mir folgen. Ich kotzte gedanklich und dann wirklich. Mitten auf den Marktplatz setzte ich einen großen Berg aus bordeauxroten Nudeln. Peinlich. Ich blickte mich um und war auf einmal alleine. Wo waren sie hin? Ach ja richtig, sie hatten sich lachend, wie ebenso angeekelt zu Bett begeben. Mein Mund schmeckte säurig. Ein wenig Rast auf einer Bank vor den anstrengenden Stufen zu unserer Herberge. Der Wind spielte um meine Nase und mein Magen entspannte sich allmählich, als mich von hinten eine Hand berührte.

Ich fahre herum. Jessica steht in meinem Rücken. Sie hat mir einen Kaugummi mitgebracht. Ich nehme ihn aus ihrer Hand und habe kaum mehr als vier Bissen getätigt, da zieht es sie auf meinen Schoß oder ich habe sie dorthin gezogen, wer kann das schon mit Sicherheit sagen. Meine Zunge bohrt sich tief in ihren Rachen. Wir küssen uns und Finger greifen wollüstig den Körper des anderen ab. Ich nehme ihre Hand und dränge sie zur Grotte. Keine Gegenwehr. Wir übersteigen die Absperrungen. Die verbotene Höhle endet mit einem großen Plateau zur anderen Seite der Bucht ins Freie. Es stinkt bestialisch, doch dem Geruch gelingt es nicht, unsere Leidenschaft niederzuringen. Ich lege mich auf den warmen Stein und sie folgt. Zärtlich streicheln sich unsere Zungen in der Dunkelheit. Langsam schiebe ich meine Hand unter ihr Oberteil. Krach. Mein Arm zuckt schlagartig zurück. Was war das denn? Wieder schlägt irgendetwas dicht neben uns ein. Ein Felsbrocken? Steine fliegen vom Himmel! Dann ein Schrei. Ein Teppich fällt neben uns auf den Boden. Halt, das ist etwas anderes. Ein leises Wimmern dringt an unsere Ohren. Ich taste mich, so schnell es mir mit schwankendem Blick möglich, zu dem Gegenstand. Gott im Himmel, das ist Michael. Seine Beine sind in alle Richtungen verdreht, er ist über und über von Blut bedeckt und selbst sein Kopf sieht zerschlagen aus. Ich schreie um Hilfe. Jessica schreit nur. „Los, renn los und hol Hilfe.“ Ich versuche Michaels Kopf zu stützen, während sich Jessicas stampfende Laute entfernen. „Sag was.“ Stille. „Komm schon, sprich mit mir.“ Nur ein weit entferntes, leises Röcheln dringt aus dem Inneren seines Körpers hervor. Stille. Wie konnte das passieren? Er muss uns gefolgt sein. Ich blicke nach oben und sehe in großer Höhe einen mondbeschienenen Felsvorsprung. Das mussten über zehn Meter sein. „Sag doch was.“ Tränen treten aus meinen Augen. Ich fahre mir über die Stirn und sein dickflüssiges Blut verschmiert mein Gesicht. Meine Hand legt sich auf sein Herz. Nichts, kein Ton. Scheiße, nein, dann hört mein Denken auf. Das Meer bricht sich an den Felsen. Mein keuchender Atem. Es vergeht eine Ewigkeit bis Jessica mit zwei Männern erscheint. „Der Mann ist Doktor.“ Er schiebt mich zur Seite und ich kann nur registrieren, was geschieht. Ein paar Handgriffe, dann bekreuzigt er sich. Zu viert knien wir am Ausgang der Grotte und der Mond spiegelt sich im unruhigen Wasser. Wasser tropft von meinem Kinn. Keiner sagt ein Wort.
Man sagt, alles im Leben hat etwas Gutes, aber könnte ich die Zeit an den Tag unserer Ankunft in Vernazza zurückdrehen, würde ich nicht trinken, nicht kotzen, nicht küssen, nicht weinen und mir nicht seitdem die Schuld für seinen Tod geben. Schuld löscht den Glauben an das Gute aus!
Ich fahre herum. Jessica steht in meinem Rücken. Sie hat mir einen Kaugummi mitgebracht. Ich nehme ihn aus ihrer Hand und habe kaum mehr als vier Bissen getätigt, da setzt sie sich auf meinen Schoß und ich verspüre den Impuls, meine Zunge tief in ihren Rachen zu bohren, aber wir küssen uns nicht. „Zwischen uns wird nichts passieren!“ „Ich weiß.“ Ich strecke ihr meine Hand entgegen. „Freunde?“ Sie nimmt meine Hand. „Freunde!“ Wir erheben uns und schlendern durch das kleine Örtchen. Als wir an der abgesperrten Grotte vorübergehen, halte ich kurz inne. Was sich in ihr befindet? Ich will es nicht wissen! Der Mond spiegelt sich im ruhigen Meer. Kurze Zeit später betreten wir unser Zimmer. Michael und Daniel sind noch wach.
Nichts löscht den Glauben an das Gute aus, wenn man sich in seinem täglichen Handeln bemüht, gut zu sein!

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