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Philipp Lahm: „Der feine Unterschied“

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Ach herrjeh, was gab es nicht für eine Aufregung um dieses Buch, ohne dass jemand mehr als die dem Boulevard zugesteckten Auszüge gelesen hatte. Die alten Beißreflexe sind noch intakt, wenn sich die vermeintlichen Granden der Branche vorgeführt vorkommen. Und Lahm nennt in seinem „Der feine Unterschied“ ein paar Namen und ordnet ihnen ein paar unschöne Eigenschaften zu. Oho… Die Opfer sind allerdings längst emeritiert (Völler), weit weg (Klinsmann) oder eh to big to fail (van Gaal).

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Dabei war es sicher keine große Neuigkeit, dass Verlegenheitsbundestrainer Rudi Völler kaum in die Kaste der Taktikfüchse einzuordnen ist. 2002 rettete sich die Nationalelf dank eines überragenden Michael Ballack mit Minimalistenfußball, einer kaum zu begreifenden Duselauslosung und einiger wohlwollender Schiedsrichterentscheidungen bis ins WM-Endspiel. Zwei Jahre darauf versenkte sich das schon nicht mehr fahrende Schiff bei der desaströsen EM selbst. Völler inszenierte sich als Märtyrer und bleibt allein deswegen im kollektiven Gedächtnis der heimischen Fußballfreunde als Heilsfigur und eben der eine Rudi Völler verhaftet. Lahm schreibt wenig anderes und dennoch gibt es einen Aufschrei der Empörung im Boulevard.

Was also will Lahm mit diesem Buch erreichen, das irgendwo zwischen zaghafter Abrechnung, Autobiographie und Ratgeber Kicken osziliert? Es gibt zwei Ansätze:

1. Profil schärfen

Lahm will sich ein Profil verpassen. Das desjenigen, der zwar den Mahner gibt, das aber mit einer Stromlinienförmigkeit tut, die einer heutigen Generation Fußballer so schlecht steht. Philipp Lahm ist mit Sicherheit ein cleverer, möglicherweise auch unter der durchchoreographierten Schale ein netter Junge, der weiß, was er will und was dafür von Nöten ist. Machtmensch, Karrierist und ganz sicher begnadeter Kicker. So kommt die mittlerweile obligatorische Stiftung als eigenes Kapitel daher, der schon früh in der Bayern-Jugend implementierte unbedingte Siegeswille ebenso. Einige andere Primär- und Sekundärtugenden werden mit langer Herleitung vorgestellt und auf den netten Herrn Lahm transferiert. Als Nationalelfkapitän muss er den Platzhirsch geben und den Finger in Wunden legen, die es im heutigen Bundesligaalltag so gar nicht mehr gibt. Figuren sind austauschbar, wer aus der Reihe tanzt, dem wird mächtig in die Parade gefahren. Will Lahm sich mit seinem Rundumschlag, für den er sich doch eigentlich gar nicht entschuldigen muss, als Choreograph bewerben? Vorstellbar. Einsnull für die eigene PR-Abteilung.

2. Ich bin nicht schwul!

Oder aber es ist ganz anders und die ersten 235 sind eine unterhaltsame, voyeuristische Ouvertuere für das letzte Kapitel: Ich bin nicht schwul. Denn dort wird es so grotesk, dass man zum ersten Mal richtig ins Kopfschütteln kommt. Dort erklärt Philipp Lahm, dass er nicht schwul sei. Was ja eigentlich gar nicht schlimm sei, im Gegenteil, schwul sein ist ja vollkommen okay. Aber er halt nicht. Scheinbar gibt es Gerüchte um ihn und Lahm versucht sie mit einer solch verkrampften Verve, sie auszuräumen und die Quelle zu erklären, dass man gar nicht umhin kommt, sich zu fragen, warum diese Charade? Möglicherweise ist dieses Kapitel für Lahm das wichtigste, in jedem Falle ist es das unterhaltsamste und aufrichtigste des ganzen Buches. Denn es spiegelt die ganze Verkrampfung wider, die in der Szene nach wie vor zum Thema „Homosexualität“ vorherrscht. Rund um jeden halbwegs prominenten Kicker gibt es wohl 200 verschiedene Gerüchte. Der eine vermöbelt regelmäßig seine Frau, einer hat mindestens zwei uneheliche Kinder, der nächste ist vier Jahre älter, als in seinem Ausweis steht usw… Dass aber der Kapitän der Nationalelf ausgerechnet dem “Vorwurf”, homosexuell zu sein, derart massiv entgegen treten muss, dass er dafür extra eine Biographie zu schreiben hat, ist traurig und lässt zu tief blicken. Dass Lahm sich darauf einlässt zeigt die ganze Tragik der Diskussion.

Fazit: Warum sollte man dieses Buch lesen? Um sich in den Diskurs zum Thema stürzen zu können und Position zu beziehen. Pro Lahm? Contra Lahm? Darauf kommt es am Ende nicht an, denn eigentlich stehen in „Der feine Unterschied“ keine Meinungen, sondern doch recht objektive Wahrheiten. Wenn in einem Millionenbusiness wie dem Profifußball einer mit der „Ja, aber dass darf er doch nicht sagen“-Karte kommt, dann kann man dafür höchstens ein müdes Lächeln respektive eine verbale Blutgrätsche übrig haben. Lesbar ist das Buch allein seiner Kurzweiligkeit und des gelungenen Namedroppings wegen. Wie man heute Spitzenfußballer wird, wie der Untertietl suggeriert, erfährt man allerdings nicht. Möglicherweise gibt es dafür noch nicht mal eine Anleitung. Also: Lesen Sie es, wenn Sie mögen, es wird Ihnen nicht weh tun. Der hier und da gebräuchliche Duktus, wird Sie an alte Werke von Fußballphilosophen wie Fritz Walter und Uwe Seeler erinnern, wenn Lahms Ghostwriter in hoher Frequenz von „Kameraden“ spricht und dieses alte “11 Freunde” und “Gras fressen”-Vokabular beschwört. Lesen Sie es oder lassen Sie es. In zwei Jahren spricht eh niemand mehr davon.

Nachtrag: Das Beste an diesem Werk ist, dass er den feinen Verlag Antje Kunstmann, der üblicherweise ein ebenso feines Programm anbietet, derartig auf Jahre saniert haben dürfte, dass man sich auch nach der kommenden EM noch auf interessantere und relevantere Werke wird freuen dürfen.

Till Erdenberger

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