Ich habe Kathi nicht in den
Arm genommen

Gott sei Dank bin ich so vergesslich. Stellen Sie sich einmal vor, sie könnten sich an alles erinnern, dass Ihnen jemals widerfahren ist. Wenn es mir so ginge, ich würde mich vermutlich gar nicht mehr vor die Haustür trauen, weil ich an jeder Ecke Unheil vermuten würde. Diese Aussage lässt jetzt vermuten, dass mir in meinem Leben schon sehr viel oder gar vor allem Unheil begegnet ist. Nun, nein. Nicht nur. Aber auch. Zum Beispiel in Form von wildfremden Menschen, die mich auf den Gehwegen und Plätzen dieser Stadt ansprechen und versuchen, mich von ihrer „guten Sache“ zu überzeugen. Gehen Sie einmal über den Alexanderplatz, Sie werden sofort Freunde finden. Entweder von Scientology, der Berliner Zeitung, vom Deutschen Naturschutzbund oder sonstigen Vereinen mit Geldsorgen.

Noch vor einigen Jahren – ich war jung, doof und neu in Berlin – hatte es ein offenbar psychologisch geschulter Umweltschützer geschafft, an mein schlechtes Gewissen zu appellieren und mir binnen drei Minuten eine Mitgliedschaft in einem Tierschutzverein aufgeschwatzt. Gewiss, hier ging es um eine gute Sache, aber eine Herzensangelegenheit war es mir nicht unbedingt gewesen. Mein Zweifel am tatsächlichen Arbeitserfolg des Vereins, Geldmangel meinerseits und das unfassbar hässliche Layout der Vereinszeitung mit chronischem Magenta-Stich veranlassten mich zwei Jahre später, meine Mitgliedschaft zu kündigen. Und Schwupps: Da war es wieder, mein schlechtes Gewissen. Das Schöne an so einer Mitgliedschaft im Tierschutzverein ist ja, dass man bei erneuten Anfragen auf der Straße sagen kann: „Ach, weißt Du, ich bin schon beim Verein so und so, und ich kann es mir nicht leisten, auch noch bei Euch mitzumachen.“ Klingt zwar armselig, war aber nie gelogen.

Und auch bei den Zeitungs-Sklaven scheint immer noch die „Habe bereits ein Abo“-Strategie die beste zu sein. Zugegeben: Eine Lüge. Aber eine, die unmittelbar wirkt – man muss nicht einmal sein Schritttempo verlangsamen – und der Belogene hat auch nicht unbedingt das Gefühl, versagt zu haben, schließlich lasse ich ihn ja in dem Glauben, sein Instinkt hätte ihn nicht getäuscht, als er sich kurzerhand entschlossen hatte, gerade MICH zu fragen, ob ich nicht den Tagesspiegel nach Hause geliefert bekommen möchte. Er kennt seine Zielgruppe, denkt er sich, er kam nur einfach ein paar Tage, Wochen oder Jahre zu spät.

Wie man religiöse Bekehrer möglichst effektiv abwimmelt, habe ich noch nicht herausgefunden – hier sind mittellange Gespräche nur schwer auszuschließen, wenn man nicht komplett unhöflich erscheinen möchte. Bei den Naturschutzverbänden scheine ich jedoch mittlerweile auf dem richtigen Weg zu sein, um nicht in ihre Fänge zu geraten. Und dazu muss ich nicht einmal lügen. Sie lassen mich trotzdem nach spätestens anderthalb Minuten in Ruhe, und das geht folgendermaßen:

„Hi, hast Du mal einen Moment Zeit?“
„Hmm, na ja…“

„Kommst Du aus Berlin?“
„Hmm.“

„Du studierst bestimmt, oder?“
„Nee.“

„Ach, bist Du schon so voll im Beruf und so?“
„Hmm.“

„Ich bin vom WWF. Kennste?“
„Hmmm.“

„Ich bin übrigens Kathi. Und Du?“ Sie reicht mir die Hand. Ich schüttle zurück.
„Sven.“

„Hallo Sven! Du weißt ja sicherlich, dass der WWF sich für den Umweltschutz engagiert. Bist Du an Umweltschutz interessiert?“
„Nein.“

„Wie? Du bist nicht daran interessiert, dass es der Umwelt gut geht? Warum denn nicht?“
„Weil ich Menschen verabscheue.“

„Wie jetzt?“ Kathi schaut skeptisch.
„Na ja, dieser ganze Naturschutzgedanke ist doch im Grunde völlig egoistisch. Den wenigsten liegt doch das Wohl der Natur um ihrer selbst Willen am Herzen, sondern meist geht es doch darum, dass die Tier- und Pflanzenwelt uns Menschen, unseren Kindern erhalten bleiben soll.“

„Aber das ist doch immer noch besser, als wenn man gar nichts tun würde.“
„Nee, es ist nicht besser. Wenn ich die Menschen doch gar nicht mag, dann ist es in meinen Augen doch nur von Vorteil, wenn sie sich ihren Lebensraum selbst zerstören und möglichst schnell aussterben. Ist natürlich Schade, wenn Tigerente, Storch und Einhorn auch darunter leiden müssen, aber irgendwelche Einzeller oder Ratten werden uns schon überleben, und dann kann die ganze Evolution ja wieder von vorne beginnen. Aber ohne Menschen – erstmal zumindest.“

Wir sehen uns an und schweigen für ein paar Sekunden.

„Dann ist bei Dir also gar nichts zu machen?“, fragt Kathi. Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich schüttle den Kopf. Ihre ganze Weltrettungsenergie scheint in der letzten Minute verloren gegangen zu sein. Das professionelle Lächeln ist einer ernsten Miene gewichen. Ihre Schultern hängen schlaff herab. Was ist bloß aus der guten alten Kathi geworden? Fast möchte ich sie in den Arm nehmen und trösten. Mache ich natürlich nicht. Kathi verabschiedet sich. Ich bin frei, frei zu gehen. Dennoch fällt es mir ein bisschen schwer, den Weg zur S-Bahn anzutreten und die merklich stille junge Dame einfach stehen zu lassen. Kathi ist nämlich äußerst sympathisch. Sie hat einfach nur einen unheimlich beschissenen Job. Da hatte ich mich jetzt so schön in Rage geredet, ihr mein Herz ausgeschüttet und meinen Weltekel vor ihre Füße geklatscht. Kann ich sie denn in diesem Zustand alleine lassen? Das muss ich wohl. Ich muss zur S-Bahn, und Kathi muss Geld verdienen. Während ich über den Alex schlendere, frage ich mich, welcher Fakt Kathi wohl unglücklicher gemacht hat: Meine misanthropische Weltanschauung oder dass sie mir keinen Mitgliedsvertrag für den WWF aufschwatzen konnte? Wieder zwei Minuten, in denen sie kein Geld verdient hat. Wäre es vielleicht doch besser gewesen, mit starrem Blick an Kathi vorbeizugehen und sie einfach zu ignorieren, wie sie es von tausenden Mitmenschen tagtäglich gewohnt ist? Dann hätte ich wenigstens nicht ihre kostbare Zeit gestohlen. Aber diese Unfreundlichkeit! Diese verdammte Unfreundlichkeit! Die will man doch auch nicht haben. Wie man’s macht, man macht es verkehrt.

Im S-Bahnhof gibt es Crêpes. Apfelmus oder Vanillepudding? Oder doch Nutella? Was war eben noch mal gewesen? Da war doch was? Hatte ich nicht gerade noch ein Gespräch geführt? Aber mit wem? Und worüber? Hoch lebe die Vergesslichkeit!

Sven van Thom

Über Sven van Thom

Sven van Thom ist Sänger, Gitarrist und Schreiber seiner eigenen Lieder in Deutscher Sprache und jetzt auch BLANK-Kolumnist. Seine großen Themen sind Melancholie, Liebe und Albernheit. Er wurde 1977 geboren, wuchs in einem Dorf namens Stolzenhagen, nicht weit von Berlin auf und wohnt nun seit mehr als zehn Jahren in der Hauptstadt. Regelmäßig (an jedem letzten Sonntag im Monat) kann man Sven van Thom live im NBI in der Kulturbrauerei erleben. Dort tritt er mit seinem Wegbegleiter Martin Gottschild unter dem Namen “Tiere streicheln Menschen” auf. Zwischendurch tourt er durch die Republik, veröffentlicht CDs oder produziert die Musik seiner Band BEATPLANET und die anderer Künstler.

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