An einem verregneten Mittwoch Nachmittag treffe ich den Schriftsteller Thomas Glavinic. Vor unserem Interview war mir bekannt, dass er 37 Jahre alt ist, dass „Das Leben der Wünsche“ seine siebte Romanveröffentlichung ist, die er alle auf einer 30 Jahre alten Schreibmaschine, für die es kaum noch Farbbänder gibt, getippt hat und dass er nach Daniel Kehlmann, mit dem er befreundet ist, der meistübersetzte Autor der jüngeren österreichischen Generation ist. Was heißt das nun? Keine Ahnung.
Macht mir Thomas Glavinic Angst?
15 Uhr. Ein Büro des Hanser Verlages.
In einem schwarzen Pulli mit Reißverschluss über dem weißen T-Shirt sitzt er in einem kleineren Verlagszimmer, weil die Fassade gerade restauriert wird, seelenruhig vor mir.
Hat er mitbekommen, dass ich ein Fan bin und deswegen meine Hände schwitzig sind?
Es scheint ihn nicht zu interessieren und augenscheinlich erwartet er die immer gleichen Antworten, auf die immer gleichen Fragen. Ich tue ihm den Gefallen und er spult ab, dass er von der Idee bis zum ersten getippten Buchstaben eines neuen Romans im Durchschnitt ein Jahr verstreichen lässt, dass er zur immer gleichen Musik von Stereolab schreibt, und dies jeden Tag gleich nach dem Aufstehen bis er zwei Seiten zusammen hat, ein Umstand der auf seiner alten Schreibmaschine bis zu 6 Stunden in Anspruch nehmen kann, da sie keine Löschtaste besitzt. Weiter führt er aus, dass er seinen zweiten Roman „Herr Susi“ am liebsten nie veröffentlich hätte, sein Schreiben sich aus Motiven zusammensetzt, was an der ersten Seite seines vorletzten Buches „Das bin doch ich“ sehr veranschaulicht wird, er dem Leser oberflächliches wie tiefes Lesen ermöglichen will, man von Buch zu Buch besser wird, er immer versucht einen Erstling zu schreiben, es ihn freut, wenn seine Leser noch Wochen später über ein Motiv des Buches stolpern, er einen Notizblock neben dem Bett hat, sein Stil und Inhalt zu einem Ganzen werden sollen, er sich als Schriftsteller mittlerweile sehr gut kennt und die Struktur eines Romans zu verstehen glaubt. Im Schreiben, so sagt er, geht es ihm um Wahrheit.
(Zitat aus seiner gestrigen E-Mail:
„Mir geht es beim Schreiben nicht um Wahrheit, sondern um Wahrhaftigkeit – das ist ein wichtiger Unterschied.“)
Er nippt an einem Kaffee, zitiert Dürrenmatt, verweist auf die Unterschätzung von Bukowskis Kurzgeschichten und verweigert Fragen über sein Privatleben. Ich bin eingeschüchtert.
Über sein jüngstes Werk war mir durch oberflächliches Durchlesen bekannt, dass sich die Geschichte um seinen bereits in „Die Arbeit der Nacht“ etablierten Protagonisten Jonas dreht, der nachdem ein Penner ihm drei Wünsche schenkt, mit der Jackpotantwort „Alle meine Wünsche sollen in Erfüllung gehen“ glänzt. Ab diesem Zeitpunkt scheint sich der Mist aus Jonas Unterbewusstsein zu verselbstständigen.
(Zitat aus seiner gestrigen E-Mail:
„Der Wunschmann ist kein Penner. Er ist einfach unrasiert. Aber er trägt einen Anzug, und er riecht nach Bier. Beides trifft auch auf mich gelegentlich zu, ohne dass ich die Bezeichnung „Penner“ für mich als zutreffend erachtete.“)
Macht mir Thomas Glavinic Angst? 20 Uhr. Literaturhaus. Auf der Bühne trägt er ein schwarzes Sakko über dem schwarzen Hemd, unter dem eine Goldkette aufblitzt. Er liest die ersten zwei Kapitel komplett, überspringt das Dritte, liest dann aus dem Vierten. Kein Zweifel er ist ein Vorleser, so gut, wie ich es selten gehört habe. Anschließend beantwortet er die immer gleichen Fragen, wie Nachfragen auf das von ihm gedruckte Interview im „Playboy“ mit treffenden Worten und bringt das Publikum zum Lachen. Seine Perfektion schüchtert mich ein.
(Zitat aus seiner gestrigen E-Mail:
„Ich möchte dringend darauf hinweisen, dass ich keine Goldkettchen trage. Meines ist aus Silber, und ich trage es, weil es mir mein Sohn geschenkt hat.“)
Einige der besten Zeilen des Buches:
In der warmen Jahreszeit summieren sich die vielen kurzen Blicke in hübsche Gesichter, auf nackte braune Schenkel, auf Bäuche und in Dekolletés, die sich im Laufe des Tages präsentiert hatten, meist zu einem Wunsch nach Entladung und Befreiung, sie kulminieren in der Lust auf einen friedlichen Orgasmus // Allmählich glaube ich, du bist gar nicht wirklich nett, du willst im Gegenteil die Menschen quälen, indem du sie durch wiederholte Zuwendung unter Druck setzt // Jede Frau hatte eine klein wenig andere, eine besondere Art zu lieben, und Jonas war verrückt nach der von Marie. // Antworten auf die Fragen des Lebens, die ihn beschäftigten, hatte er immer schon in der Liebe gesucht. // Ihn erfüllte eine so schmerzhafte, wütende Sehnsucht nach ihr, dass er sich im Schlafzimmer einsperrte, um mit sich und seinem Bild von ihr allein zu sein. // Hinter seiner Stirn knackte es wie unter Wasser. // Wenn ich jemals an den Everest käme, weißt du, was ich sagen würde? Diesem Berg widme ich all meine Berge. // Mit aller Kraft versuchte er sich im Hier und Jetzt festzuhalten. // Machs gut, sagte er schnell zu Helen. Und schloss in sich die Tür. // Im Wein schwamm eine Mücke. Er fischte sie mit Hilfe der Serviette heraus. Sie lebte noch. Er freute sich. // Einen Zahn zu verlieren ist wie ein kleiner Tod. // Jonas hatte das Gefühl, an sich zu ertrinken. // Er konnte sich geradezu selbst noch spüren, das, was er beim letzten Mal von sich hier gelassen hatte. // Weltausschaltcode, sagte Jonas. Was? Vielleicht gibt es ein Kürzel am Computer, das die ganze Welt ausschaltet.
Macht mir Thomas Glavinic Angst?
22 Uhr. Restaurant Oskar Maria. Thomas Glavinic hat eine Dame des Hanser Verlages gebeten mich zum Essen zuzuladen. Er hat das Sakko abgelegt und trinkt denselben Weißwein, der ihm zur Lesung gereicht wurde. Ich entschwinde zum Rauchen nach draußen, obwohl er, der früher bis zu vier Schachteln täglich geraucht hat, mir erklärt, dass Nikotin bei ihm im hohen Maße Nervosität und körperliches Unwohlsein hervorrief. Bereits nach drei Zügen merke ich, dass er Recht hat und bin noch mehr eingeschüchtert.
(Zitat aus seiner gestrigen E-Mail:
„Ich möchte niemanden einschüchtern. Ich hoffe, dieses Gefühl hat sich bei Dir nachhaltig gelegt.“)
Obwohl Thomas Glavinic mit jedem Buch das Genre wechselt, ist er auch in seinem neuesten Roman der Sprachvirtuose, der wahnwitzige Geschichten spinnt, die einem auf wunderbar lakonische Weise den Spiegel vorhalten.
24 Uhr.
Eine Kurzmitteilung von ihm. „Sind im Schumanns. Kommst du noch nach?“
Bevor ich ihn sehe, renne ich den Machern eines honorigen deutschen Magazins in die Arme. Auch sie haben Glavinic bereits ausgemacht und murmeln hinter vorgehaltener Hand vom „Starautor“. Ich setze mich zu ihm. Er lacht viel, eröffnet, dass er seit Jahren von Tsunamis träumt, erzählt von vergangenen exzessiven Alkoholnächten, dass er sich heute besser im Griff hätte, bestellt einen Gin Tonic, beantwortet meine Frage, ob er glücklich sei, mit einem einfachen „Nein“, und bringt mich zum Grinsen. Meine Schüchternheit ist verflogen. Über den Tag denke ich seinen Humor verstehen zu können, denke ihm ein wenig auf die Schliche gekommen zu sein und sehe einen gut gelaunten, herzlichen Menschen vor mir, der in seinen Büchern bewusst alles offen legt und dadurch unangreifbar, wie uneinschätzbar wird. Wir stoßen an und er gibt mir ein gutes Gefühl.
Ich: „Was wäre deine Henkersmahlzeit?“
Er: „Ich habe mal gelesen, dass jemand darauf „etwas Fertiges“ geantwortet hat.“
2 Uhr. Johannesstüberl.
Er bestellt sich einen Kaffee.
Kaffee? „Ja, um besser einzuschlafen.“
Und da ist er mir wieder entwischt. Sein Gesicht verrät, dass er das weiß.
Eine halbe Stunde später hält das Taxi an seinem Hotel und wir verabschieden uns. Kurz sehe ich ihm nach und weiß, dass ich diesen Glavinic vermissen werde, auch wenn er das sicher nicht gerne lesen wird.
(Zitat aus gestriger E-Mail von Thomas Glavinic:
„Den Text finde ich sehr gut gemacht, obwohl ich zuviel gelobt werde. Trotzdem wird es mich freuen, Dich bei meinem nächsten München-Besuch wiederzusehen. Liebe Grüße, Thomas“)