ICE of the living dead

von Stefan Kalbers

Ich habe einen Traum, und der geht so: Schichtbeginn Samstag mittag 14.00 Uhr. Ich komme aus dem Freibad direkt zur Arbeit. Und zwar mit dem Taxi. In einer Plastiktüte stecken mein nasses Handtuch, das Duschgel, eine Packung Gummibärchen und eine verklebte Ausgabe von Willards Fußfetisch Magazin. Ich steige aus dem Taxi ohne zu zahlen, denn ich habe eine Taxiflatrate. Vor dem Bahnhof grüße ich den ein oder anderen Kollegen von Ferne. Mein Bauch quillt fettig über den Saum der Badehose. Mein Kopf, mein ganzer Körper ist von der ungewohnten Sonne krebsrot und total verbrannt. Die Schlappen an meinen Füßen machen ein floppendes Geräusch. Ich steige in meinen ICE, schließe die Führerkabine auf und mache als erstes den Technikcheck. Anschließend laufe ich alle Waggons ab. Es gibt keine Reservierungen. Es gibt außer mir kein Personal. Alle Plätze sind frei, alle Wagen sind leer.

Wenn das Signal von rot auf grün springt, setzt sich das Ungetüm langsam in Bewegung. Wie eine Schlange kriecht der Zug durch die zahlreichen Weichen im Bahnhofsbereich. Dann werden die Gleise weniger, bis nur noch das eine zu sehen ist, auf dem ich mich selbst bewege. Die Richtung ist vorgegeben, und die Panoramascheibe zeigt mir einen blauen Himmel. Die Beschleunigung lässt die Bäume und Häuser am Wegesrand zu einem einzigen farbfrohen Schmierfilm zerfließen. Tonnenschweres Stahl macht sich auf den Weg, all die unglücklichen Seelen abzuholen. Meine Arbeit kann beginnen.

Ich kann ihn schon von Weitem sehen, wie er da auf der Brücke steht und mir entgegenblickt. Vielleicht hält er sich schon seit Stunden da oben auf und hat zahlreiche Züge an sich vorbeiziehen lassen. Unentschlossen, ängstlich. Ich gebe ihm mit den Frontscheinwerfern ein Signal. Hier bin ich. Ich bin der richtige. Jetzt darfst du. Und dann klettert er auch schon über das Geländer, springt und fällt und fällt. Jeans und T-Shirt stürzen durch die Luft. Mein Club kennt keine Türsteher. Heute heißt es wieder: Eintritt frei. Jeder darf. Bringt eure Freunde mit. Und als wäre die Höhe nicht schon schlimm genug gewesen und seine Glieder aufgeplatzt, blutig und die Knochen gesplittert, so werden jetzt, unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Der Zug donnert über ihn hinweg, Blut spritzt an die Scheibe …und das war’s. Das Fahrgeräusch bleibt das Gleiche. Kein Rumpeln, kein Zögern, nur zärtliches Dahingleiten auf Schienen. Der erste Passagier ist an Bord. Ich schalte die Scheibenwischer an, das Blut schmiert etwas, und greife nach der Tüte mit den Gummibärchen.

Der nächste Fahrgast ist eine Frau. Sie steht im Gebüsch, genau in der Biegung einer ziemlich unübersichtlichen Kurve. Sie will nicht entdeckt werden, will auf Nummer sicher gehen, will auf jeden Fall vermeiden, dass der Zug noch bremsen könnte. Kein Angst, junge Frau, ich nehme jeden Anhalter mit. Unbeholfen klettert sie auf die leicht erhöhten Gleise. Für eine Sekunde kann ich ihr verheultes Gesicht sehen und denke mir noch: Komm, zeig mir ein letztes Mal deine Titten, aber dann klebt sie auch schon irgendwo unter mir an der Frontseite. Ein abgerissenes Bein fliegt durch die Luft, zurück in den Wald, wird wichtige Nahrungsquelle für allerlei Getier. So haben alle was davon: die Frau, die Tiere und ich.

Keine fünf Kilometer weiter muss ich dann aber doch den Kopf schütteln. Immer diese Rentner. Sollten doch Vorbild sein. Schranke unten heißt nun mal, Achtung Zug, bitte stehen bleiben. Auch dann, wenn der ehemalige Herr Studienrat nicht mehr richtig hören kann und Frau ‹‹Ich mach regelmäßig Gymnastik und fühle mich noch ganz fit›› sagt: ‹‹Also, von rechts kommt nichts.›› Beim Überqueren der Gleise empfiehlt sich immer zweimal zu schauen. Und das gilt auch für Wandergruppen. Ich zähle auf die Schnelle dreizehn ältere Herrschaften mit Rucksack, Sonnenhut und Wanderstock auf den Gleisen. Ja, Entschuldigung, dass ich jetzt lachen muss, aber das sieht einfach lustig aus. Die blöden Gesichter, das wilde gestikulieren. Hätten sie in Physik besser aufgepasst, dann wüssten sie, dass ich den Zug nicht mehr rechtzeitig stoppen kann, selbst wenn ich wollte. Dann macht es ‹‹klatsch, klatsch, klatsch››, rechts und links spritzt Gedärm, Kopf und Wurstbrot durch die Luft. Wenn ich das richtig gesehen habe, hat der Zug einen Mann genau in der Mitte durchtrennt. Na ja, geteiltes Leid ist bekanntermaßen nur halbes Leid. Ich greife wieder nach den Gummibärchen, aber die Tüte ist leer.

In den nächsten zwei Stunden sammle ich noch ein Liebespaar ein, dessen Beziehung vom familiären Umfeld nicht geduldet wird, einen Mann, dessen Frau vor kurzem bei einem Unfall ums Leben kam, einen jüngeren Mann, der eine Krebsdiagnose bekommen hat, und schließlich einen reichen Unternehmer, der es nicht ertragen kann, sich an der Börse verspekuliert zu haben. Alle werden sie nacheinander in die Luft geschleudert, zerrissen und zerteilt, zu Brei gepresst und gleichen anschließend einer frischen Schlachtplatte. Voilà, es ist angerichtet. Dann mache ich Pause. In einem mitteldeutschen Städtchen steht der ICE auf einem Sondergleis. Weit weg von gewöhnlichen Passagieren, die mit neugierigen Blicken auf etwas stoßen könnten, das sie nichts angeht. Die Anzeigetafel ist blank, die Türen bleiben geschlossen.

Ich schlappe durch den Bahnhof, grüsse auch hier von Ferne bekannte Gesichter. In dieser Branche entkommt man einander nicht. Jeder kennt jeden und Gerüchte und Geschichten verbreiten sich schneller als Lucky Luke ziehen kann. Bei McDonald’s lasse ich mir acht verschiedene Burger und eine Cola geben. Verlegen taste ich die Seiten meiner Badehose ab.

‹‹Oh, Scheiße. Kein Geld dabei.››

Der Andere mahnt mit dem Zeigefinger.

‹‹Dann gib mir die Badehose.››

Wir lachen beide, man kennt mich hier. Ich habe eine Burgerflatrate samt Extras. Mit dem Tablett in der Hand verziehe ich mich in die hinterste Ecke und lasse es mir schmecken.

‹‹Ja››, denke ich mir. ‹‹Bei uns wird Service groß geschrieben. Wir geben den Kunden, was sie haben wollen. Täglich sind wir im Einsatz. Für Sie, für Deutschland. Kostenlos. Hilfe direkt und unbürokratisch. Kein nerviges Anmelden, Mailadresse hinterlegen, Passwort abholen. Keine Altersverifikation per Postidentverfahren. Kein staatlich beglaubigter Nachweis, dass vorab ein Beratungsgespräch stattgefunden hat.

Ich liebe meinen Beruf. Er ist sinnvoll, trägt ein klein wenig zur Verbesserung der Welt bei und wird gut bezahlt. Jeder hat das Recht, sein Leben zu beenden wann er möchte. Wir unterstützen die Kunden dabei.

Mit vollem Bauch schlappe ich wenig später zurück zu meinem Zug. Ich lege mich in das Abteil eines Schlafwagens und halte ein Nickerchen. Nach einer Stunde geht es weiter. In einem großen Bogen werde ich die Richtung ändern und schließlich am Abend wieder in meiner Heimatstadt eintreffen. Bis dahin werde ich zwischen zehn und zwanzig weitere verlorene Seelen eingesammelt haben. Hängt immer ein wenig von der Jahreszeit ab, vom Wochentag oder der Ferienzeit. Ich mache das jetzt schon seit 16 Jahren und könnte mir nichts besseres vorstellen.

Soweit der Traum.

In Wirklichkeit muss natürlich auch ich eine Uniform tragen, habe nervige Kollegen und darf mir das Gemecker der Fahrgäste anhören. Der Job ist nicht mal halb so gut bezahlt, die Schichtdienste nerven. Die Taxiflatrate gibt es ebenso wenig wie eine Burgerflatrate.

Ich hocke in der Lounge für Bahnangestellte und beobachte drei Kollegen am anderen Ende des Raumes. Zwei von ihnen sprechen auf den Betroffenen ein. Er sitzt mit krummem Rücken und hängenden Schultern in sich zusammengesunken da. Beinahe vier Monate hat er gefehlt. Nach dem ‹‹Unfall›› stand er unter Schock. Konnte wochenlang nicht arbeiten. Schuldgefühle zerpflügten sein Gewissen. Er bekam eine Therapie und wurde zur Kur geschickt. Jetzt hängt er wieder öfter hier herum. Will sich wieder eingewöhnen. Bereitet sich innerlich auf seinen ersten Arbeitstag vor. Und natürlich haben alle Verständnis für seine Niedergeschlagenheit. Behaupten, dass würde jedem so gehen. Aber das stimmt nicht. Den ersten Lebensmüden hatte ich keine drei Wochen nach Berufsantritt. Ich sah den Mann auf die Gleise laufen, wie er dastand mit den aufgerissenen Augen, habe ihn überfahren und bin pünktlich im Zielbahnhof eingefahren. Natürlich hätte ich anhalten müssen. Habe ich aber nicht eingesehen. Ich lass mir doch nicht die Tour versauen. Später habe ich behauptet, ich hätte nichts gesehen. Die ganze Sache hätte unterhalb meines Sichtfeldes stattgefunden. Seitdem gelte ich unter den Kollegen als Monster. Aber ich sage euch was, ihr Fotzen: Wenn ihr nicht verstanden habt, dass das Leben eine Abfolge aus Niederlagen und Enttäuschungen ist, gespickt mit dem ein oder anderen Bonbon, dann verkriecht euch in Löcher oder werft euch vor den Zug. Wer nicht mehr leben will, soll sterben, und eure Schwäche ist nicht mein Problem.

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